Zeitzeugen: Erinnerungen an den Gerberbruch
Aufgeschrieben von Peter Zanger (Jahrgang 1935).
Irgendwo habe ich mal gelesen, das menschliche Erinnerungsvermögen reiche bis ins vierte Lebensjahr zurück. Demnach muss die Östliche Altstadt von Rostock einen tiefen Eindruck auf mich gemacht haben. Ich war nämlich gerade vier Jahre alt, als meine Großeltern 1939 von Oberhalb des Gerberbruchs Nr. 3 nach Brinckmansdorf zogen – und dennoch kann ich mich an viele Dinge noch lebhaft erinnern.
Das Grundstück
Oberhalb des Gerberbruchs Nr. 3 war ein mit gut 1000 m2 ein recht großes Grundstück, das dicht an die Stadtmauer angrenzte. Heute verläuft hier ein Fußweg entlang des Spielplatzes; die Gebäude sind noch vor der Wende (wahrscheinlich 1988) abgerissen worden. Der
hintere Teil des Grundstückes ging bis zum Gerbergraben hinunter, der dann in einer Rechtskurve von 90 Grad in den Gerberbruch einmündete und von dort in die Unterwarnow floß. Großvater Christian Pölckow war Viehhändler und nutzte die Stallungen unten am
Gerber graben bis zuletzt. Die Ringe zum „Antütern“ des Viehs habe ich noch nach der Wende an der Gartenmauer wiederentdeckt.
Der Garten – und mein Pastor
Apropos: der Garten. Er lag etwas erhöht dicht an der Stadtmauer. Und darüber war das Pastorat von St. Nikolai. Das die Söhne des Pastor Behm von dort aus gelegentlichen Ärger bereiteten, weiß ich natürlich nur aus den Erzählungen meiner Großeltern und meiner
Mutter. Doch 1949 wurde ich von einem der Söhne, Pastor Jürgen Behm – übrigens in der Klosterkirche hinter der Universität (St. Nikolai war noch eine Ruine) – konfirmiert. Während der Konfirmandenzeit lernte ich diesen Mann, der im Krieg ein Bein verloren hatte, als eine prinzipienfeste aber auch humorvolle Persönlichkeit kennen und schätzen. Nur ein Beispiel: während des Winters musste jeder Konfirmand zum Unterricht ein Stück Holz für den Kanonenofen mitbringen. Die „Grubenstraßen – Kumpels“ (so von Pastor Behm tituliert) allerdings wurden aufgefordert, ein Brikett beizusteuern. Der Pastor wusste nämlich, dass
die Altstadt-Jugend auf die Kohlezüge an der Viergelindenbrücke – Richtung Hafen sprangen um das dringend benötigte Heizmaterial zu „organisieren“.
Zeichenunterricht im Torweg
Das Grundstück an der Stadtmauer muss ein malerisches Motiv gewesen sein. Oft saßen ganze Schulklassen im Torweg mit ihren Zeichenblöcken. Manchmal war es auch ein Künstler mit seiner Staffelei.
„Zitra, Bahn frei“
Diese Ecke der Altstadt war aber auch ein Paradies für Kinder. Nicht zuletzt im Winter, wenn der Abhang (Oberhalb des Gerberbruchs ab der Ecke Lohgerberstraße) zur „halsbrecherischen“ Rodelbahn wurde, weil unten am Gerberbruch der Gerbergraben und sein Geländer entweder links oder rechts umfahren werden mussten. Das ging nicht immer glatt ab – trotz der martialischen Rufe „Zitra, Bahn frei! Wer sick nich wohrt, ward öwerkohrt!“ Diesen plattdeutschen Warnruf verstand damals bestimmt jeder, denn Hochdeutsch war so eine Art Fremdsprache, die man erst auf der „Höltentüffel–School“ am Alten Markt mühsam erlernte.
Wasser und die Hygiene
Fließendes Wasser gab es Ende der dreißiger Jahre schon, aber an Kanalisation war noch nicht zu denken. Deshalb kamen einmal wöchentlich (?) kräftige Männer mit einem Pferdefuhrwerk. Sie verschlossen die offenen Fäkalieneimer mit einem Schraubdeckel und hievten sie auf der von einem Lederschutz bedeckten Schulter hinaus. Sehr eindrucksvoll für einen kleinen Buttjer wie mich! Ja, jetzt bin ich sicher: es gab fließendes Wasser. Denn ich habe noch den gelegentlichen Ruf in den Ohren: „Dat Wader ward afschloten!“
Betrieb am Gerbergraben
Wie öde wirkt heute der Gerberbruch, wenn man sich noch gut an den zugeschnittenen Gerberbruch erinnern kann! Es herrschte reges Treiben, weil die Arbeiter der Gerberei dort die frisch gegerbten Häute spülten. Der säuerliche Geruch der Eichenlohe steckt mir immer noch in der Nase. Und den großen Bottichen in der Gerberei näherte mach sich mit großem Respekt. Eine der Gerbereien gehörte der Familie Bernitt. Ihr Wohnhaus hat bis jetzt alle Wirren der Zeit überstanden. An der Fassade kann man noch „Gerberei und Lederhandlung Bernitt“ entziffern. Genau gegenüber lag das Haus meiner Großeltern.
Klönschnack am „Brink“
Abends ging Opa gern mit mir durch den völlig verschwundenen Gerbergang zum heute noch vorhandenen „Brink“ am Mühlendamm, um mit den Bruchfischern einen Klönschnack zu halten. Die saßen dort auf der Bank – die Pfeife im Mund und die Fischerboote zu ihren Füßen. Sein bester Freund hieß Wilhelm Buhck (dessen Enkel wohnte vor wenigen Jahren noch am Fischerbruch).
Die Urgroßmutter
Wohl keine Straße der Altstadt hat so viel von ihrem ursprünglichen Charakter bewahrt wie die Lohgerberstraße. Im Geburtshaus meines Großvaters (Nr.9), saß bis zu ihrem Tode am 13. Februar 1937 am Fenster meine Urgroßmutter mit Spitzenkragen und Häubchen. Ich sehe sie noch vor mir, obwohl ich damals noch nicht einmal zwei Jahre alt war!
Kurze Wege zum Einkauf
Zum Einkaufen brauchte man damals kein Auto, denn zu den kleinen Läden waren es nur wenige Schritte. Oberhalb des Gerberbruchs gab es am Gerbergraben den Milchmann und gegenüber einen Bäcker. An der Ecke Lohgerberstraße war ein weiterer Bäcker, bei dem ich für fünf Pfennige eine Tüte Rumkugeln bekam. In der Kneipe gegenüber holte ich für Opa mit einem „Siphon“ Bier. Und an der Altschmiedestraße / Ecke Kleine Goldstraße bediente Kaufmann Peters seine Kunden im braunen Kittel. Alles was man heute fertig abgepackt bekommt, schaufelte er aus großen Schubladen in kleine Tüten.
Gesang für „Theden Semp“
Nur ein einziges Altstadt-Geschäft, mit dem mich die schönsten Kindheitserinnerungen verbinden, existiert heute noch unter dem gleichen Namen: die Schlachterei Käding in der Große Scharrenstr. 5 hinter dem Rathaus. Der damalige Inhaber Theodor Käding war Opas alter Freund (Spitzname „Theden Semp“). Ihm mußte ich entweder vorsingen:
„Wenns Bayrisch Eier regnet und Bratwürstel schneit,
dann bitt ich den lieben Herrgott,
dass es immer so bleibt“
oder ich hatte mit den Ohren zu wackeln. In beiden Fällen gab es eine Knackwurst oder ein Stück Gekochte – ohne Lebensmittelmarken.
Autor: Peter Zanger, der Text wurde abgedruckt in der OSTPOST Nr. 10
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